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Die Zukunft war gestern

"Wie knüpft man an an ein früheres Leben?
Wie macht man weiter, wenn man tief im Herzen zu verstehen beginnt, dass man nicht mehr zurück kann?"

 

Dieser Satz schwirrt mir seit Tagen, wenn nicht Wochen im Kopf herum. Diese Worte sagt Frodo im letzten Teil der "Herr der Ringe" Trilogie, bevor er das Auenland zum letzten Mal verlässt. Diesmal nicht um ein weiteres Abenteuer zu erleben. Sondern er schließt sich den letzten Elben an und verlässt Mittelerde. Er hat Mittelerde vor dem Untergang bewahrt. Die Bewohner des Auenlandes, wo er aufgewachsen ist, haben von alledem nichts mitbekommen. Mittelerde ist gerettet. Doch nicht für ihn. 
Das Land, in das er zurückkehrte, das er stets liebte, hat sich nicht verändert. Doch für ihn ist es nicht mehr dasselbe. 

Je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr fühle ich mit Frodo. Hätte er das Auenland nie verlassen, wäre er vermutlich immer noch glücklich. Doch er hat zu viel gesehen, zu viel erlebt und andere Länder gesehen. Er vergleicht. Vergleicht alles, was er einst für gut befand. 
Er hinterfragt vieles. Und auch ich tue das. Doch zumeist zieht meine alte Heimat den kürzeren. 

Ich fühle mich zurück versetzt. In eine andere Zeit. Nein, früher war nicht alles besser. Es war nur anders. Die Neuzeit hat vieles, das einem das Leben erleichtert. Und auch vieles das es verkompliziert. Krankheiten, die früher als unheilbar galten, können heute behandelt werden, oder sind gar nicht mehr vorhanden. Die Lebenserwartung hat sich mehr als verdoppelt. Vor einhundert Jahren wäre ich nicht in 35 Stunden nach Neuseeland gekommen. Ich hätte 8 Wochen, wenn nicht länger unter Deck auf einem Schiff verbracht und mit einer ordentlichen Portion Glück, einem starken Willen und unter widrigsten Umständen, hätte ich es eventuell ans andere Ende der Welt geschafft. Wenn mich nicht der Wahnsinn, das Skorbut oder eine einfache Grippe dahingerafft hätte. Das OnBoard Entertainment Programm hätte mir nicht die neuesten Kinofilme gezeigt, während der Service mich alle paar Stunden mit Getränken und Mahlzeiten versorgt hat. Das Zählen der Nägel in den Brettern, die mein Bett darstellten, das zähmen der Ratten oder die eigene Imagination, wären alles was mich unterhielt. 

 

Soweit zurück bin ich zum Glück nicht gereist. Aber teilweise fühle ich mich in die 80-ger oder 90-ger versetzt. Ohne den Glam-Rock. Zwei Jahre lang, konnte ich sozusagen einen Blick in die Zukunft werfen. Keine 50 Jahre. Darth Vader war nicht zugegen und auch keine Sternenkreuzer. Auch wenn man den Sternenhimmel im Land der langen weißen Wolke, hervorragend begutachten kann. Der Sternenhimmel ist glasklar. Mit dem bloßen Auge gut zu erkennen.  Und nein, die Aliens haben sich nicht gezeigt. E.T. hat nicht gewunken und es gab auch keine "coolen" Weltraumschlachten zu sehen. Meiner Meinung nach, sollten wir darüber dankbar sein. Denn ich denke, wir hätten nicht den Hauch einer Chance. Egal, wie überlegen wir uns fühlen. Jede Zivilisation, die es schafft auf fremde Planeten zu reisen, ist deutlich weiter. Glaubt man an die Mondlandung, dann sind wir dennoch weit davon entfernt es mit anderen Zivilisationen aufzunehmen. Wir kriegen es ja nicht mal untereinander hin im Frieden zu Leben. Der Typ da drüben, ich kenne ihn nicht, aber ich hasse ihn. Er ist ja schließlich schwarz. Oder schwul. Oder vermutlich beides. Oder meine Religion, sagt etwas anderes. Außerdem ist er Fan von Werden Bremen. Okay, das geht zu weit. Das kann ich wenigstens ansatzweise verstehen. Bremen...tz. 

 

 Aber mal ehrlich. Wir sind jetzt seit ein paar Tagen zurück im ach so fortschrittlichen Westen. Wir kamen, erneut, ohne viel Besitz in ein "neues" Land, haben uns von vielen Sachen trennen müssen und haben einiges, das nicht von lebensbedrohlicher Wichtigkeit war gespendet. Die ersten zwei, drei Tage waren also eher spärlich. Also war eine kleine Shopping Tour unabdingbar. Aber die erste Hürde war bereits der nahende Sonntag. Einkaufen am Sonntag. Undenkbar in Deutschland. Wie viele hitzige Diskussionen führte man bereits zu diesem Thema. Ich kann es nicht mehr hören. Die Mitarbeiter brauchen ja auch mal einen Tag Ruhe. Klar, es gibt ja auch nur drei Mitarbeiter, die den Laden von morgens um 7 Uhr bis Abends um 22 Uhr, sechs Tage die Woche ohne Urlaub (außer einen halben Tag an Heiligabend) offen halten. Das Argument, man könne ja mehr Personal einstellen, verfliegt meistens bereits nach dem aussprechen. Mehr Personal ist ja was schlechtes. Das könnte ja weniger Arbeitslose bedeuten. Aber wo kommen wir denn da hin. 

 

Wir schieben die Shopping Tour dennoch ein paar Tage vor uns her, um diese mit einem weiteren Termin zu kombinieren, um Fahrkosten gering zu halten. Am Donnerstag morgen um neun Uhr, steht der Termin beim Einwohnermeldeamt an. Wir hatten uns ja ohne deutschen Wohnsitz gemeldet. Dementsprechend, geht auch nicht allzu viel. Sämtliche Anträge, die uns noch bevorstehen, sind erst nach der Meldung einzureichen. Ohne gültige Meldeadresse geht erstmal nichts. Macht ja auch irgendwie Sinn. Meine Frau konnte telefonisch einen Termin vereinbaren. Fantastisch.  

 

Donnerstag morgen um kurz vor neun stehen wir also vor dem Einwohnermeldeamt. Mit Masken, dem Kind und ein paar Papieren bewaffnet. Man wird freundlich von einem Schild begrüßt. Kein Eintritt ohne Termin. Der zuständige Berater holt sie hier VOR der Tür ab. 
Es nieselt leicht. Das Wetter ist deutlich kühler als die letzten Tage. Die Uhr schlägt neun und die deutsche Pünktlichkeit lässt auf sich warten. Nanu, denke ich. Das kenne ich aber noch anders. Naja, wird vermutlich noch im Gespräch sein, kommt sicher gleich. Fünf Minuten später immer noch niemand vor Ort. Ein anderer Kunde kommt schnellen Schrittes an die Tür. Nach dem gescheiterten Versuch, diese zu öffnen, fragt er uns verwundert, ob wir einen Termin haben. Wir bestätigen dies und er erzählt sogleich, dass er keinen habe. Er habe allerdings bereits an einer anderen Dienststelle probiert ohne Termin einen Berater anzutreffen und nun sein Glück hier versucht. Immerhin bedankt er sich freundlich, als wir ihm erklären, dass aufgrund der Corona Situation nur mit Termin überhaupt etwas zu erreichen sei. Kopfschüttelnd zieht er davon. Er wirkte, als ob er von Corona noch nichts mitbekommen hatte. Waren wir oder er zwei Jahre nicht im Land gewesen, wunderte ich mich. Egal. Der Nachwuchs wollte wieder bespaßt werden. Ich ging ein paar mal auf und ab, mit ihm an den Händen. Es ist mittlerweile zehn nach neun und noch immer kam niemand zur Tür. Ungeduldig drückte ich den Klingel Taster.
Es klingelte und klingelte. Und klingelte. Und klingelte. Dann verstummte es. Ich wartete auf eine Stimme, die uns empfing. Aber diese blieb aus. Leicht genervt, klingelte ich erneut. Und erneut. Ich klingelte insgesamt 10 Minuten ohne Antwort. Dann kam plötzlich eine Person an die Tür und begrüßte uns. Es solle doch bitte nur eine Person eintreten, wegen der Abstandsregeln. Das könne ja eine Person für uns alle erledigen. Vor Corona undenkbar, ohne Bevollmächtigung, Heiratsurkunde, aktuelle Leberwerte, Blutprobe, Sporturkunde der siebten Klasse sowie den Überresten des vierten Hausmeerschweins in einer standesgemäßen Urne. 

Mit kurzer Verzögerung sagte sie schließlich, sie können auch drinnen, vor dem Büro warten. Ich erwiderte leicht ironisch, "Klasse, mit warten kennen wir uns aus." Wortlos, drehte sich die Mitarbeiterin um und ging voraus. Damit war entschieden, wer den Termin wahrnimmt. Ich habe mir wichtige Elternzeit mit dem Zwerg erspielt. Vor dem Büro konnten wir nun ganze vierzig Minuten, "Quality Time" miteinander verbringen. Das Kinderspielzeug (nicht desinfiziert), unterhielt den Junior nur bedingt. Es ging also aktiv zur Sache. Treppe hoch, Treppe runter. An den Händen laufend, den Gang hoch und runter. Diverse Mitarbeiter schauten zwar verdutzt, aber grüßten freundlich. Dann endlich kam meine Frau seufzend aus dem Büro, rollte mit den Augen und sagte: "Geschafft!" Ein Gefühl, als hätte man soeben eine zweite Mondlandung verbracht, zeigte sie stolz den handschriftlichen Eintrag: "Müden (Aller)", und den großen Dienststempel darüber. Gut investierte vierzig Minuten, denke ich innerlich. Hätte man nicht am Telefon bereits erwähnen können, das es reiche, wenn eine Person kommt? Egal, Schritt eins wäre damit abgehakt. Nun tatkräftig zu Schritt zwei. Besorgungen machen. 

 

Die gigantische Innenstadt Gifhorns und deren Fußgängerzone baute sich vor uns auf. Nett anzusehen, musste ich zugeben. Fachwerkhäuser, Kopfsteinpflaster, kleine Gassen, die nach links und rechts weggingen. Die Cafés gefüllt mit maskierten Einwohnern, vorrangig älteren Kalibers. Die belebte Metropole glich dem Aufenthaltsraumes eines Altenheims. Am vierten Vodafone Store vorbei, ging es als erstes in eine Drogerie. Wir waren auf der Suche nach Babynahrung. In Neuseeland konnte man in diesen handlichen Drückflaschen (Quetschies) für unterwegs allerhand verschiedenes bekommen. Diverse Obstsorten, aber auch herzhafte Speisen. Lamm, Kartoffeln, Hühnchen, Rind, Süßkartoffeln oder Fisch. In diversen Sorten gab es nichts, was es nicht gab. Hierzulande gibt es Obst. Äpfel, Bananen, Pflaumen, Pfirsiche, Birnen oder auch Erdbeeren. Diese dann aber auch gemischt. Untereinander. Also Obst mit Obst. Oder man nahm Obst mit anderem Obst. Weiteres Obst mit mehr Obst gibt es allerdings auch. Nur herzhaftes gibt es kaum. Wenn man also was anderes möchte gibt es Dinkel. Also Obst mit Dinkel. Oder anderes Obst mit Dinkel. Haben die Bio-vegetarischen Eltern also allerhand Auswahl. 
Doch in der letzten Ecke gibt es dann doch zwei oder drei Sorten. Reis mit Fisch, Spaghetti in Tomatensoße oder Kartoffel-Eintopf mit Rind. Aber im Glas. Nicht hundertprozentig praktisch für unterwegs,  aber immerhin etwas. 

Nach diesem halbwegs erfolgreichen Fund, meldet sich langsam der Magen zu Wort. Naja, eher so eine Art grunzen. Der Magen knurrt. Vielleicht eine Kleinigkeit vom Bäcker. Das ist etwas was man in Neuseeland dann doch vermisst. So ein schönes belegtes Brötchen mit Mett. Oder halbes Schwein auf Toast. Das wird es hier doch wohl geben. Maske auf und ab in den Bäcker rein. Was wie ein Überfall anfängt, endet mit einer herben Enttäuschung. Nicht das sie so etwas nicht da hatten.
Aber ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift: "Keine EC Kartenzahlung möglich."
Ich hatte lediglich mein kleines Scheckkarten Etui mit. Da drin waren alle Karten, die ich in Neuseeland benötigte. Der Führerschein, die Bankkarten, meinen Personalausweis, die ein oder andere Mitgliedskarte. Ein Polaroid von meiner Frau und dem Zwerg, sowie eines meines Patenkindes, welches mich seit der Abschiedsfeier begleitet. Es war auch Platz für ein oder zwei Scheine. Nur hatte ich keine dabei. Das Bargeld ist in Neuseeland nicht mehr groß gefordert. Man zahlt mit der Karte. Mit Paywave. Das geht schnell, ist einfach und gerade in den heutigen Zeiten, kontaktlos. Ebenso war es mit vielen anderen Dingen. Meine Strom-, Gas-, Internetrechnungen, alles lief per App oder Online. Natürlich konnte man auch weiterhin hunderte von Briefen bekommen, aber wofür? Wir sind sogar innerhalb Wellington umgezogen und hatten nicht einen Termin beim "Amt" oder diverse Briefsendungen zum mitteilen der neuen Adresse. Alles ging per App. 
Die neue Adresse war per App mitgeteilt und gut ist. Die Bestätigung kam per Email. Ich vermisse diese Einfachheit. Enttäuscht verlasse ich den Bäcker und ziehe die Maske vom Gesicht. So muss sich also der Bankräuber fühlen, der ohne Beute das Weite sucht. Ich fiel auf meine Knie und verzweifelte vor Hunger. Sollte dies also das Ende sein. In einer belebten Fußgängerzone, in der nun gleißenden Mittagssonne. Kaum Schatten warf die unbarmherzige Sonne auf uns herab, gelegentlich zog ein Schatten der darauf wartenden Geier über uns hinweg. Doch dort am Horizont, erschien plötzlich ein flimmerndes Gebäude. Von einer Aura umgeben, strahlte es heller als die Sonne und spendete uns Hoffnung. Hoffnung auf Erlösung. Mit letzter Kraft richtete ich mich auf und stiefelte in die Richtung des Lichts.  Neu gepflasterter Parkplatz, in erschreckend gutem Zustand. Dies konnte natürlich eine Fata Morgana sein, sagte ich mir vorsichtig um nicht blindlinks in den eigenen Tod zu laufen. Es war keine. Es war ein Edeka Markt. Na, was für ein Glück. Wir waren gerettet. Wobei meine Frau das ganze als weit weniger tragisch empfand, betraten wir den Eingangsbereich, wieder mit der Maske bekleidet. Ein Bäcker lächelte uns an. Ich stellte mich artig in die Reihe und probierte die Auslage auszuspähen, um beim Bestellvorgang Zeit zu sparen und mir die bösen Blicke, der hinter mir wartenden Hyänen zu ersparen.  Mein Blick schweift also über die köstlich anmutenden belegten Brötchen, Kuchen, Torten und unzählige Sorten verschiedenster Brote. Dann zog ein weiteres Schild seine Aufmerksamkeit auf sich. Mein linkes Auge begann zu zucken. Mein Atem stockte. Die Hoffnung verflog. "Nur Barzahlung möglich." 

 

Die Backwarenfachverkäuferin blickte mich an. Ich war an der Reihe. Ich erkundigte mich, ob dieses Schild ein Relikt aus vergangenen Tagen sei, ein Denkmal an die "gute alte Zeit" oder vielleicht eine Traditionsinschrift. Sie verneinte. Das EC Lesegerät war aber keineswegs defekt. Es sei lediglich nicht vorhanden. Meine nicht jedem sichtbare Energieanzeige, verlor ein weiteres Herz und blinkt nun, mit unheilvollen Soundeffekten und düsterer Musik unterstrichen. Meine Sichtfeld verliert langsam an Farbe und verwischt leicht bei jeder Kopfbewegung. Die Umgebungsgeräusche werden dumpf und meine Frau zieht mich an der Schulter aus der Gefahrenzone. Während ich mich davon schleppe, rief die Verkäuferin uns hinterher: "Wenn sie über 10 Euro an der Edeka Kasse bezahlen, können sie sich Bargeld auszahlen lassen!" 

 

Der Tag war für mich gelaufen. Wir gingen hinaus auf die staubige Straße. Ich erblickte gegenüber eine Menschentraube. Der Pöbel versammelte sich meist wenn wir zugegen waren. So einen Anblick sahen sie nicht oft. Staunend gafften sie nun also auf das unbekannte Objekt. Mit einer schwingenden Armbewegung forderte ich sie auf, beiseite zu gehen. Sie gehorchten. Wir stiegen auf die mit der Dampfmaschine betriebene Höllenmaschine und brausten mit berauschenden 5 km/h vor den entsetzten Augen davon.

Die Zukunft ist angekommen, ihr Narren. Haltet euch fest.

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Kommentare: 3
  • #1

    Angelika (Dienstag, 29 September 2020 14:00)

    Ach herrlich, ich könnte stundenlang deinen Blog lesen.
    Danke :-)

  • #2

    Sabine (Dienstag, 29 September 2020 16:42)

    Welcome back ��� aber es gibt wieder schöne Geschichten �übrigens: nur bares ist wahres �

  • #3

    Miri (Mittwoch, 30 September 2020 14:30)

    Oh Gott ich hasse Bargeld wie die Pest. Ich habe auch fast nie welches bei mir und drehe Regelmäßig durch wenn ich irgendwo essen gehe und man kann nicht mit Karte zahlen. Mal ernsthaft... was soll das?