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Tag 28 - Aufbruch in die alte Welt

07:21 Uhr

Ich bin wach. Nicht aus eigener Kraft versteht sich und vor allem nicht auf eigenen Wunsch. Aber was soll man machen. Obwohl die letzten Wochen nicht groß anders waren, ist heute doch etwas besonderes. Nach vier Wochen bricht für mich der erste Arbeitstag an. Zwar nur im Home Office, aber immerhin. Ich schnappe mir also den Nachwuchs und bereite uns ein schönes Frühstück vor. Meine Frau kann noch ein paar Minuten liegen bleiben, da ich ja eh aufstehen muss. Nachdem der kleine gefrühstückt hat, ist dieser zufrieden und kehrt auf seiner Decke ein. Umrandet von seinen Spielsachen, ist er mit sich selbst beschäftigt. Nun geht es auch für uns ans Frühstück. Spiegelei auf Toast. Für die Arbeit gestärkt, ziehe ich mich um und gehe ins Büro. Also den Nebenraum. Wie konnte mir das denn nur passieren? Ich hatte gar keinen Kaffee in der Hand. Ich Tollpatsch. Ich muss nun also den ganzen Weg zurück, um mir einen Kaffee zu bereiten, bevor ich mit der Arbeit loslegen kann. 

 

09:10 Uhr

Erster Arbeitstag. Ich bin zu spät. Aber warum sollte sich das auch in vier Wochen ändern. Ich bin in der Regel sehr verlässlich, aber gerade morgens ist Pünktlichkeit nicht meine Stärke. Eine deutsche Tugend, die ich nicht vollends in mir aufgenommen habe. Aber zum Glück bin ich ja nicht in Deutschland. Und trabe nicht im Büro an, sondern im Kinderzimmer, wo mein Schreibtisch steht. Die Stechuhr ihm Eingangsbereich ist außer Betrieb beziehungsweise nicht vorhanden. Außerdem ist meine Firma da generell sehr kulant. Hier werden keine Minuten gezählt. Hier ticken die Uhren etwas langsamer. Und das ist gut so. Ich setze mich also an den Rechner und fange an. Für heute war Bildbearbeitung angesagt. Ich hatte für eine unserer Tochterfirmen mehr als siebenhundert Bilder vom Vermiet Inventar gemacht, die nun für die neue Homepage fertig bearbeitet werden sollten. Das sollte mich also für eine Weile beschäftigen. Kleinere Kaffeepausen, kurze Entspannung für die Augen inbegriffen, konnte ich mehr oder weniger ununterbrochen bis zum Mittag durcharbeiten. 
Zu den Schlafphasen des Zwergs, war ich auch nicht alleine im Zimmer und konnte ihn entspannt vor sich hinträumen hören. Das Home Office hat also einige Vorteile für mich und ist zur Zeit auch von der Regierung empfohlen, wo immer dies möglich ist. Aber jetzt wird es höchste Zeit für ein Lunch-Break. 

 

13:00 Uhr
Der Lockdown im Land wird um eine halbe Woche verlängert. Das gab die offizielle Pressemitteilung der Premierministerin heute bekannt. In zwei Tagen wäre das Alert Level 4 offiziell beendet worden. Dieses wird somit über das Wochenende verlängert und geht nun bis nächsten Dienstag. Einer der Gründe ist mit Sicherheit, das bevorstehende lange Wochenende und die daraus resultierende Reiselust und der Drang, das Haus zu verlassen. Am 25. Mai wird hier der ANZAC Day gefeiert. Feiertage die hier auf ein Wochenende fallen, werden am darauffolgenden Montag "nachgeholt". Wäre ja auch eine Frechheit, wenn ein Wochenende uns einen Urlaubstag klaut. Ich denke, für die meisten von euch, muss ich den ANZAC Day etwas genauer beschreiben. Es ist ein Gedenktag der den Soldaten gewidmet ist, die 1915 in den ersten Weltkrieg einbezogen wurden. Ein Thema das in Deutschland weitgehend verschwiegen wird, ist hier bis heute ziemlich präsent. Denkmäler, Museen, Gedenktafeln findet man in jeder noch so kleinen Stadt. Die verlorenen Seelen sind hier nicht vergessen. Soldaten, die ihr Leben ließen, werden verewigt und nicht vergessen. Und jedes Jahr am 25. Mai jährt sich der Tag und wird mit einer großen Militärparade bei Sonnenaufgang gewürdigt. Über die Mittagspause machen wir einen kurzen Spaziergang. Evans Bay ist das erklärte Ziel. Den Nachwuchs in der Karre vor mir herschiebend, gehen wir also los. 

 

Ich kann den Sand unter meinen Füßen spüren, als ich den ersten Fuß an den Strand setze. Ich blicke mich um. Vor uns befinden sich steile Felsformationen, die in die Höhe stoßen wie Reißzähne. Ein Anblick den ich nie vergessen werde. Die aufgehende Sonne hinter ihnen, lassen sie bedrohlich wirken. Und das sind sie. Der ganze Tag würde sich auf ewig in meiner Erinnerung festsetzen. Der Tag bricht gerade an, als wir die Landungsboote verlassen. 04:30 Uhr, wir erreichen die Landezone, den sogenannten Z-Strand. Umgeben von hunderten meiner Kameraden, stoßen wir an die Hänge vor und suchen Deckung. Zu spät wie sich herausstellt. Das Maschinengewehr Feuer prasselte uns um die Ohren. Ein ununterbrochenes Rattern, während links und rechts die Einschläge zu sehen sind. Viele meiner Kameraden, meiner Freunde, erreichten nicht einmal die Steilwand. Der Strand war gesäumt mit Verwundeten und Toten. Wir sollten nicht hier sein. Ich schaffte es irgendwie, sei es Schicksal oder einfach nur Glück, von den Salven verschont zu bleiben und warf mich gegen die Klippen. Der Feind konnte mich hier nicht erreichen. Zumindest vorerst. Ich versuchte einen klaren Kopf zu behalten. Aber wie war das möglich bei diesem Anblick? Umgeben von hunderten verzweifelten Soldaten, schreienden Verwundeten und Gewehrfeuer. Wir waren in die Hölle gekommen, noch bevor wir überhaupt in den Konflikt eingriffen. Wir, das waren freiwillige Soldaten, bestehend aus neuseeländischen und australischen Truppen. Dem britischen Empire gefolgt, sind wir gegen das osmanische Reich eingesetzt worden. Erst vor wenigen Monaten, waren wir nach Ägypten versetzt worden. Ausgebildet als Kavallerie Brigade, entgegen jeder Vernunft eingesetzt als Infanterie. 
Wir wurden verraten. Zu alledem noch viel zu weit südlich abgesetzt. Statt einem flachen Anstieg und ohne viel Gegenwehr, landeten wir an einer Steilküste, wo die osmanischen Truppen bereits auf uns warteten. Unter herben Verlusten, konnten wir den Hügel "Baby 700"

für uns einnehmen. Dieser kleine Erfolg war allerdings nur von kurzer Dauer. Wenig später wurden wir vom Feind überrannt und konnten uns mit den wenigen verbleibenden Truppen verschanzen. Ein unerbittlicher Grabenkampf entbrannte. Ein Sieg war hier nicht mehr zu holen. Wenn es in einem Krieg überhaupt Sieger geben kann.

 

Dieser Moment, beschreibt den Eintritt der ANZAC Truppen in den ersten Weltkrieg. Dieser tobte allerdings schon fast ein Jahr in Europa. 

Als Konflikt gestartet, sollte dieser später als erster Weltkrieg in die Geschichte eingehen und war der bis dato umfassendste Krieg der Menschheitsgeschichte. Mit über 40 involvierten Nationen, 70 Millionen Menschen unter Waffen und 10 Millionen Verlusten weltweit. Alleine die Schlacht um Gallipoli, die ich hier kurz anriss, forderte 100.000 Menschenleben. 

 

Heute, 105 Jahre danach, halten Soldaten in Neuseeland, Australien, Tonga, der Türkei und vielen anderen Nationen bei Sonnenaufgang Paraden, im Gedenken an die unzähligen Verluste. Und auch hier gibt es eine Besonderheit. In Wellington steht ein Denkmal zu Ehren des Kommandanten Mustafa Kemal. Besser bekannt als Atatürk. Kommandant der osmanischen Truppen in Gallipoli und erster Präsident der 1923 gegründeten Türkei. Eingraviert auf diesem Denkmal ist folgende Inschrift: 


Those heroes that shed their blood

And lost their lives.

You are now lying in the soil of a friendly country.

Therefore rest in peace.

There is no difference between the Johnnies

And the Mehmets to us where they lie side by side

Here in this country of ours.

You, the mothers,

Who sent their sons from far away countries

Wipe away your tears,

Your sons are now lying in our bosom

And are in peace

After having lost their lives on this land they have

Become our sons as well.

 


Den Helden, die ihr Blut teilten,

und dabei ihr Leben ließen. 

Ihr liegt nun im Schoß eines freundlichen Landes. 

Ruhet in Frieden. 

Es ist kein Unterschied zwischen den Johnnies

und den Mehmets, wo ihr doch Seite an Seite liegt,

hier in diesem Land. 

Ihr, die Mütter, 

die ihr eure Söhne von weither entsendet habt, 

wischt euch eure Tränen,

denn nun liegen eure Söhne in unserem Schoß.

Und ruhen in Frieden. 

Nachdem sie auf diesem unseren Land ihr Leben vergossen haben, 

sind sie auch unsere Söhne geworden.

 

 

14:30 Uhr

Nach dem kleinen Spaziergang, sind wir zurück in den eigenen vier Wänden. Das schöne am Home Office ist doch, dass man sich seine Zeit selbst einteilen kann. Die halbe Stunde kann ich einfach hinten dran hängen und mache halt Abends etwas länger. Der Rest des Tages vergeht recht schnell. Ich komme wiederum gut voran und kann viele Bilder fertigstellen, hochladen und als erledigt ansehen. Die neue Homepage kann also Nachschub bekommen. Ich beende den Arbeitstag für heute. Ich bin froh wenn dieser Teil endlich erledigt ist. Es wird Zeit mal wieder aus dem Haus zu gehen oder zumindest ins Lager zu fahren. Andere Gesichter. Andere Umgebung. Aber auch diese Zeit kommt bald wieder, da bin ich mir sicher. Die ersten Jobanfragen kommen bereits wieder rein. Und neue Projekte gibt es ja immer. 

 

 

17:48 Uhr 

Das war er also. Der erste Arbeitstag seit Wochen. Es kehrt also langsam wieder etwas Normalität ein. Viele Dinge haben sich gar nicht verändert. Zumindest auf den ersten Blick. Man ist etwas lokaler geworden. Das wird auch zukünftig noch so bleiben, zumindest vorerst. Man wird die lokalen Restaurants unterstützen, die eigene Wirtschaft stärken. Eventuell etwas weniger Made-in-China bestellen. Stattdessen handgefertigte Sachen aus der Umgebung kaufen. Wäre das nicht zur Abwechslung mal was gutes? Vermutlich ist das nur mein Wunschdenken. Aber ich halte daran fest. Die Wirtschaft ist geschwächt. Und es gibt eine Möglichkeit das zu ändern. Aber das legen wir allein fest. Wir fliegen erstmal nicht in den Urlaub. Nicht dass das geplant war, aber wir verzichten erstmal aufs Fliegen, weite Ausflüge und importierte Bestellungen. Man bekommt doch alles auch lokal. Und da die Apokalypse ja anscheinend ausgeblieben ist, kann man ja bald auch wieder normal rausgehen, einkaufen und die Restaurants in der Nähe ausprobieren. Das was noch vor wenigen Wochen ganz normal war, kommt einem mittlerweile schon als was Besonderes vor. Ich kann es kaum erwarten ein frisch gezapftes Bier, ein Curry-Gericht beim örtlichen Inder oder auch nur ein Burger im örtlichen Pub zu bestellen. Aber noch befinden wir uns in Level 3. Die Restaurants sind noch geschlossen. Aber in ein paar Wochen ist auch das Geschichte und man geht wieder durch belebte Fußgängerzonen, geht in gut gefüllte Lokale und erinnert sich an die Zeit zurück, in der die Uhren still zu stehen schienen. 

 

 

19:27 Uhr

Der Zwerg ist im Bett und träumt bereits ruhig vor sich hin. Meine Frau und ich bereiten ein paar Snacks vor, kochen Wasser für Tee und diskutieren, in welche Welt wir heute Abend flüchten wollen. Einen Film schauen, gemeinsam ein Buch lesen oder gar ein Brett- oder Kartenspiel spielen? Während wir noch am überlegen sind, wird es plötzlich laut vor der Tür. Was ist denn da los, frage ich mich. Wir wohnen in einer sehr ruhigen Gegend. Und Parties unter der Woche erwartet man hier auch nicht unbedingt. 

Ich blicke aus dem Küchenfenster, kann aber nichts sehen. Der Lärm wird immer lauter. Ein wildes Getrampel und Gekreische.
Erst als ich einen Schritt vor die Haustür mache, sehe ich was hier vor sich geht. Ich kann es kaum fassen und reibe mir die Augen. 

Aber sie verschwinden nicht. Nichts von alledem verschwindet. Diesmal ist es real. Ich renne ins Haus, schließe hastig die Tür und rufe zu meiner Frau: "Es geht los! Hol den kleinen, wir müssen weg. Ich hatte Recht! Leider."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

- ENDE- 

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Kommentare: 2
  • #1

    Sabine (Dienstag, 05 Mai 2020 03:48)

    Na....da bin ich ja gespannt ;) Liebe Grüße an die Familie :*

  • #2

    Miri (Dienstag, 05 Mai 2020 03:48)

    Da ist man ja richtig gespannt wie es weiter geht. Ne Horde Zombies? Huuuuu